Gongga Shan

 
entlang der Ströme  
am Gyarong

Das Tal, in dem ich jetzt nach Süden fahre, ist breit, die Hänge sind im unteren Bereich bewaldet mit Fichten-Lärchenwald, im oberen Bereich ist Grasland. Die Straße schlängelt sich dem Fluss folgend am Hang entlang. Plötzlich, in einem Bereich, wo ein Erdrutsch die Straße verdeckte, fahre ich mir im Schlamm einen fünf Zentimeter langen Nagel ein, der den Schlauch gleich zweimal durchsticht. Natürlich hinten… Gelassen wechsle ich den Schlauch, alles keine Problem, denke ich. Abends flicke ich dann den kaputten Schlauch. Der Einstich des Nagels ist schnell mit einem Flicken versorgt, der Austritt dagegen ist schwieriger zu reparieren. Da ich noch einige Umdrehungen mit dem Nagel gerollt bin, ist die Stelle, wo die Nagelspitze auf die Felge traf, großflächig zerfetzt. Mit insgesamt drei Flicken bin ich dann auch damit zufrieden.

Nach etwa 23 Kilometern, auf etwa 3400 m Höhe biege ich dann in ein Tal nach Osten ein. Das Tal ist landwirtschaftlich genutzt, ich sehe abgeerntete Felder und Weiden, jeweils durch Mauern oder Lattenzäune abgetrennt. Dazwischen immer wieder Stupas, Manisteinhäufen und durch Wasser getriebene Gebetsmühlen.

Von nun an geht es wieder bergauf, insgesamt 1100 Höhenmeter noch bis auf 4500 m, dann werde ich hoffentlich einen schönen Blick auf den Daxue Shan genießen, auf die „großen Schneeberge“, deren höchster Gipfel der Minya Konka, auch Gongga Shan, mit 7556 m ist. Ich hoffe nur, dass das Wetter sich bessert…

Der erste 4500er-Pass

Bis zu einer Höhe von 3800 m ist die Straße mit Betonoberfläche und recht angenehm zu fahren. Der Pistenanteil ist bis zu einer Höhe von 4300 m recht steil, zumindest kommt es mir so vor, aber es kann so schlecht nicht sein, denn es kommen auch einige PKW vorbei. Wahrscheinlich empfinde ich es nur als steil, wegen der Höhe… Ich schiebe mehr als dass ich fahre. Alle 100 Höhenmeter eine kleine Pause zum Luftholen... Das Wetter ist gut. Ich bin optimistisch, vor dem nachmittäglichen Regen die Passhöhe zu erreichen. Der Fluss, dem ich aufwärts folge, fließt über sinterartige Tonfelder in weißer und roter Erde. Obwohl es so aussieht wie Thermalfelder an heißen Quellen, ist das Wasser kalt.

westliche Piste zum 4500er-Pass.

Ab dem Sinterfeld kann ich endlich auch wieder längere Stücke radeln, die Straße windet sich jetzt in Serpentinen bergauf und ist daher weniger steil. Schließlich, nach fast fünf Stunden die letzte Verschnaufpause, dann sind es nur noch wenige Meter. Das letzte Stück muss ich unbedingt fahren. Ich sehe schon das Schild am Pass, die Getränkebude, und auch ein parkendes Auto. Nur noch die letzte Linkskurve… Ich radle um die Kurve und schaue mit eine Mal in das volle Panorama der Daxue Shan. Selbst der Gipfel des Gongga Shan ist ohne Wolken und mit der typischen Schneefahne zu sehen! Und das bei all dem Regen der letzten Tage…

Bevor ich auch nur zum Luftholen anhalte, habe ich schon ein Bild gemacht. Die Wolkenschicht, die über dem Gebirge liegt, sinkt schnell tiefer, und nur eine Viertelstunde später sind die höchsten Gipfel in der Wolkenschicht verschwunden. Ich hätte wirklich keine Sekunde langsamer den Pass hochfahren dürfen… Jetzt bin ich zufrieden. Hier oben am Pass werde ich bis morgen früh bleiben und das Bergpanorama genießen.

Außer mir kommen zahlreiche Autos den Pass hochgefahren. Es sind chinesische Touristen, die hier ihre Herbstferien verbringen. Einige Leute wandern auch auf den Aussichtsberg, aber die meisten fahren nach kurzer Zeit wieder zurück. Die tibetische Familie, die hier auf der Passhöhe wohnt und die Getränkebude betreibt, bewundert meine Leistung, den Pass hochzuradeln und gibt mir heißes Wasser und einen Mantou. Außerdem darf ich ohne zu bezahlen auf den Aussichtsberg (nochmal 100 Höhenmeter), was normalerweise 10 Yuan kostet.

Am Nachmittag gibt es dann doch nochmal einen Regen- bzw. Schneeschauer von einer halben Stunde. Die Bergkette ist nun in dichte Wolken gehüllt. Schon gebe ich die Hoffnung auf, zum Sonnenuntergang die Berggipfel zu sehen, als sich die Wolken plötzlich wieder auflösen. Als die letzten Sonnenstrahlen auf die großen Schneeberge fallen und die Glescher in organge und rosa Licht tauchen, sind die Gipfel wieder wolkenfrei. Lediglich der Gongga Shan hat noch ein „Halsband“ aus Wolken, der Gipfel ist aber frei.

Ich bin zufrieden und lege mich in mein Zelt, das ich so aufgebaut habe, dass ich auf die Berge blicke. Die Nacht ist kalt und wolkenlos.

Dementsprechend blicke ich gleich mit dem Aufstehen auf die schönen, wolkenlosen Berge.

Panorama der Daxue-Shan vom ersten 4500er-Pass aus.

Ich mache mich an die Abfahrt ins Yulong-Tal. Es geht nun wieder bergab, ein Hochtal hinab bis wieder auf 3800m, dann beginnt der Anstieg zum nächsten 4500er-Pass, von wo aus ich wieder auf die Berge blicken kann.

Yulong Tal


Nach nur 700 Metern ist die Abfahrt mit eine Mal zuende. Der eingewechselte Ersatzschlauch ist aufgeplatzt! Ein Riss von vier Zentimetern entlang einer Fertigungsnaht. Materialfehler? Zu hoher Luftdruck im Reifen bei der Höhe? Ich weiss es nicht, sowas hatte ich bislang noch nicht. Ärgerlich allemal. Also den geflickten Schlauch wieder rein und weiter.

Das Hochtal ist beweidet, einzelne Zelte, talabwärts auch Dörfer. Wie üblich sehe ich immer wieder einzelne Manisteinhäufen und Stupas. Als ich am späten Vormittag die Brücke über den Fluss überquere und mich zum zweiten Pass bergauf quäle, weht mir ein starker Fallwind entgegen. Na toll. Zu allem Überfluss lese ich außerdem auf einem Schild, dass die Auffahrt zum zweiten Pass 20 Yuan kostet. Auf Englisch steht da nichts, also beschließe ich, mich dumm zu stellen. Als dann aus einem Zelt an der Piste ein Mönch mir winkend entgegenkommt, um das Geld einzusammeln, winke ich freundlich zurück, und fahre stur vorbei. Hat geklappt, er kommt nicht hinterher. Hinter der nächsten Kurve mache ich dann außer Sichtweite erstmal Pause, das schnelle Vorbeifahren bergauf an dem Zelt hat mich doch ordentlich außer Atem gebracht.

Der zweite 4500er-Pass


Wie am ersten Pass verbringe ich nun die nächsten vier Stunden, mich in 100-Höhenmeteretappen den Pass hoch zu arbeiten, meist schiebend, nur an den Serpentinen fahrend. Ich bin schon in Sorge, dass ich am Nachmittag nur noch in Wolken blicken werde, aber der Berg hat auf mich gewartet: Den ganzen Nachmittag lang ist das Bergpanorama ohne Wolken mit dunkelblauem Himmel zu sehen. Oben am Pass gibt es wieder mehrere Zelte mit Getränken und Essen. Ich kaufe zwei Baozi für teures Geld, Wasser habe ich zum Glück genug mitgebracht. Es ist ein Kommen und Gehen an chinesischen Urlaubern: Einige Motorradtourer mit BMW-Maschinen, Autofahrer und eine Mountainbike-Gruppe aus Chengdu mit drei Begleitfahrzeugen.

Panorama der Daxue-Shan vom zweiten 4500er-Pass aus.

Nach einer Stunde Pause entscheide ich, mich an die Abfahrt zu machen. Zunächst hatte ich auch wieder auf der Passhöhe übernachten wollen, aber hier ist mir zu viel Betrieb. 3300 Höhenmeter Abfahrt liegen vor mir. Von etwa 4500m auf dem Pass bis hinab am den Gyarong bei ca. 1200m. Ich werde das nicht am Stück abfahren, sondern noch einen Wandertag zum Gongga Kloster einlegen. Der Fußweg zweigt bei 3300 m ab.

In engen Serpentinen windet sich die Piste in das Moxi-Tal. Im oberen Teil der Abfahrt habe ich die Berge noch gut im Blick, etwas tiefer sind nur noch die Gipfel zu sehen.

Plötzlich ist der Hinterreifen wieder platt. Der Flicken an der Austrittstelle des Nagels hat nicht gehalten. Ich kann keinen Schlauch mehr wechseln, also muss ich jetzt direkt versuchen, den Schaden zu reparieren. Ein weiterer Flicken auf die undichte Stelle, und es sollte wieder gehen. Rad einbauen, weiter.

In so steilem Gelände ist es immer schwierig, geeignete Zeltplätze zu finden. Ich möchte Zugang zum Wasser (Händewaschen nach den Reparaturen…), Aussicht, und natürlich eine flache Stelle für das Zelt. Serpentine um Serpentine rolle ich weiter, finde nichts. Zudem die Sorge, dass die Flicken am Hinterrad wieder undicht werden… Schließlich entdecke ich einen kleinen Fußpfad von einer Kehre ausgehend, auf dem ich dann den gewünschten Zeltplatz finde. Inzwischen bin wieder in der bewaldeten Zone, auf nur noch 3600 m. Es ist auf der Ostseite des Passes ein Wald aus Fichten, hartlaubiger Eiche und Rhododendron überzogen mit Bartflechten.

Gongga Si

Am nächsten Morgen kontrolliere ich als erstes den Hinterreifen. Ist noch ok, ich bin optimistisch. Heute werde ich sowieso nicht viel radeln, da ich zum Gongga Kloster laufen möchte. Ich stelle das Fahrrad an der Bude am Einstieg für den Fußpfad ab, packe das nötigste in den kleinen Rucksack und wandere dann für die nächsten zwei Stunden durch den hartlaubigen Eichenwald. Die bartflechten geben dem Wald etwas mystisches. Der Weg ist breit und gut. Wenn da nicht der Anstieg von 400 Höhenmetern in engen Serpentinen wäre, hätte man sogar ganz gut radeln können.

Das Gongga Kloster wurde 1285 gegründet. Es liegt malerisch an einem Berghang direkt mit Blick auf die Westseite des Minya Konka. Man überblickt den Nordwestgrat, das westliche Kar und den Gletscher, der Schuttbedeckt etwas drei Kilometer vom Kloster entfernt endet. Vom Gongga Kloster aus begann auch die Erstbesteigung des Minya Konka am 28. Oktober 1932 durch ein amerikanisches Team und es ist heute noch Ausgangspunkt für Bergsteiger.

Der dem Kloster gegenüber liegende Hang ist voll mit „Gebetsfähnchen-Nägeln“, Fähnchenkränze ausgehend von einem besonders hohen Baum oder einer hohen Stange. Diese Fähnchenkränze sollen die Berge festnageln, und wo hohe Berge sind, brauchte es eben viele solcher „Nägel“. Ein schöner Gedanke, wie ich finde, und ich mag es, wie die bunten Fähnchen in der Sonne leuchten.


Ich erreiche das Kloster am späten Vormittag und verbringe den Rest des Tages mit kleineren Spazirgängen und die Aussicht auf den Berg genießend. Am Abend baue ich mein Zelt wieder so auf, dass ich den Berg sehen kann. Leider ziehen am späteren Nachmittag Wolken auf, die den Blick auf den Gipfel verhüllen. Jedoch, wie zum Abschied am nächsten Morgen erscheint der Berg wieder wolkenlos.

Abfahrt nach CaoKe


Zurück am Fahrrad bemerke ich, dass der Hinterreifen wieder platt ist. Eine Kontrolle ergibt eine neue undichte Stellte, da wo der Nagel ausgetreten ist. Mit dem letzten Flicken wird auch diese Stelle repariert und nun beginnt die lange Abfahrt bis an den Gyarong, auch Dadu-Fluss, hinab bis auf etwa 1200 m.

Die Piste ist sehr steinig, gar nicht gut zu fahren, insbesondere, wenn man in Sorge um den hinteren Schlauch ist. Zudem bremst ein starker talaufwärtiter Wind den Abfahrtsspaß. Die Piste führt zunächst wellig am Hang entlang durch das Dorf Zimei und verläuft danach sehr dicht am Fluss. Dies bedeutete, dass es mehrere Furten durch Seitenbäche gibt und die Piste über lange Strecken auf naktenm Flussschotter verläuft. Nichts, was eine Rasante Abfahrt verspricht. Vielmehr ist es harte Arbeit hier vernünftig voranzukommen.

Irgendwie wundere ich mich, dass genau genommen seit dem letzten Pass kaum mehr Autos vorbeikommen, und seit dem Dorf, das jetzt schon 10 Kilometer hinter mir liegt, kam gar kein Fahrzeug mehr… Die Auflösung dieser Frage kommt etwa eine halbe Stunde später: Der Fluss biegt hier um eine Felsnase und die Piste endet kurz oberhalb dieser Stelle.

Ab hier gibt es nur noch einen Fußpfad. Damit habe ich nicht gerechnet. Quälende Erinnerungen an die Radtour quer durch Tibet 2005 kommen auf, wo wir ebenfalls einer Piste entlang eines Flusses folgten, die dann in einen Fußpfad überging. Damals schoben wir die Räder für vier Tage unter anderem über einen 4800 m Pass… Jetzt ist meine Richtung immerhin grundsätzlich bergab und ich hoffe nur, dass die Umrundung der Felsnase nicht allzu viele Höhenmeter beinhaltet.

Es hilft nichts, den steilen Anstieg muss ich nun hochschieben. Es ist dann auch gar nicht so sehr schlimm, die erste 50-Höhenmeter-Rampe bringt mich dennoch ordentlich ins Schwitzen. Es folgt eine mehr oder weniger hangparallele Passage mit schönen Aussichten auf den Fluss, der an dieser Stelle langsam fließend sich verbreitert hat. Insgesamt dauert die Schiebepassage um die Felsnase etwa eine Stunde, alle steilen Bereiche kann ich gut bewältigen, auch wenn es einige Steilpassagen mit Steinstufen gab, die einiges an Kraft kosteten. Dafür traute ich es mir zu, auf den flachen Teilstücken auch mal zu radeln…

Schon bin ich optimistisch, dass nach der Felsnase es nun wieder eine Piste geben wird. Ich sehe viele chinesische Tagesurlauber, die an der breiten Stelle am Fluss picknicken. Diese Leute müssen ja irgendwie irgendwo mit dem Auto angekommen sein… Es folgt nun eine weitere Schiebepassage von etwa fünf Kilometern auf einer riesigen Schotterbank abwärts. Der Weg ist eigentlich breit genug, aber immer wieder von so großen Steinen besetzt, dass vernünftiges radeln nicht möglich ist. Außerdem ärgert es mich, dass man über das auf der Schotterbank wachstende Gebüsch nicht rüberblicken kann. Wie in einem Tunnel schiebe ich weiter, nur ab und zu kann man einen Überblick über die Landschaft erhaschen. Das Wetter hat sich verschlechtert, der talaufwärtige Wind hat zugenommen, es ist dicht bewölkt und beginnt zu nieseln. Ich möchte unbedingt vor der Dunkelheit die fahrbare Piste erreichen, schon alleine deshalb, weil ich nicht weiß, wie lange und ob der Flicken am Hinterrad hält. Nicht auszudenken, hier ein plattes Fahrrad schieben zu müssen…

Schließlich nach nicht enden wollenden Kilometern, einigen Furten durch reißende, steinige Flüsse und einigen Matschpassagen erreiche ich den Parkplatz. Hier beginnt der Gongga Shan Nationalpark und an dieser Stelle kann man nur zu Fuß eintreten. Es ist 16:30, die Heimreisewelle der Tagestouristen beginnt. Auch ich mache mich nach einer kurzen Pause an die weitere Abfahrt. Vorher pumpe ich den Hinterreifen nochmal auf – es schien mir so, als ob er wieder schleichend Luft läßt – und fahre los.

Die Piste ist staubig und steinig, führt aber jetzt gerade bergab. Nur einen Kilometer schaffe ich, dann platzt der Schlauch im Hinterreifen. So ein Scheiß auch... An reparieren vor Ort ist nicht zu denken, ein vernünftiger Zeltplatz auch nicht in Sicht. Ich beschließe ein Auto anzuhalten und mich ins Tal mitnehmen zu lassen. Der erste Reisebus mit Tagestouristen winkt ab. Darf nicht oder will nicht, am Ende macht’s keinen Unterschied. Normale PKWs kommen nicht in Frage, die haben keinen Platz. Ich schaue nach Autos mit Dachgepäckträger. Dann, ein Pickup mit leerer Ladefläche. Meine Chance. Ich halte das Auto an – anscheinend eine tibetische Familie auf Tagestour – und frage ob sie mich mit nach unten nehmen können, weil mein Rad kaputt ist. Ich zeige auf den platten Hinterreifen. „Money, Money“ schallt es mir von der Rückbank entgegen. „Leck‘ mich doch am Arsch“ rufe ich auf Deutsch und wuchte das Rad auf die Ladefläche. Da die Piste nur breit genug für ein Auto ist, staut sich der Verkehr hinter dem Pickup. Die ersten Autos hupen. Ich springe auf die Ladefläche, und los geht es, talabwärts. Wo werde ich jetzt hingebracht?

entlang der Ströme  
am Gyarong